Über ein Jahr Funktstille. Ich weiß, dass Du das schwer bis gar nicht nachvollziehen bzw. verstehen kannst.
Reflektion ist eben nicht so Deins.
Ich war immer ein Papakind und habe nur die besten Erinnerungen an Dich aus meiner Kindheit. Keiner konnte mich beim Rock’n’Roll-Tanzen so hoch schmeissen oder so lange Huckepack und auf den Schultern tragen.
Wenn Du mir Gute-Nacht-Geschichten mit der Bären-Handpuppe vorgelesen hast – das war das Allergrößte!
Ich habe mit Dir Zigaretten gedreht, weil das Gerät so toll war und ich es bedienen konnte.
Du hast mir ein T-Shirt mitgebracht an dem Tag, als ich mit einem Schuh nach meinem Bruder geschmissen habe und dabei das Fenster kaputt gemacht habe.
Mein Himmel- und mein Hochbett hast Du selbst gebaut, nach meinen Wünschen. Und damit im Himmelbett die Monster nicht an der Wand-Bett-Ritze hochkrabbeln können, hast Du mir eine Bettumrandung gebaut.
Dein Pfusch am Bau ist legendär und hat mich fast mein Leben gekostet, als ich einen Nagel (zugegebenermassen einen grossen Nagel) mitten in die Wand gehauen habe und eine stromführende Leitung getroffen habe. Mein Tapedeck hat es nicht überlebt – R.I.P.
Bei meinen Freundinnen warst Du der Held, weil Du uns viel später als andere Väter aus der Disko abgeholt hast. Meinen ersten Suff-Kotzanfall hast Du souverän gemeistert und mich im Auto auf den Beifahrersitz einfach aus dem Fenster rausgelehnt. Meiner Mutter hast Du einen Zettel geschrieben, dass ich Fahrstunde habe und geweckt werden muss, die Fahrstunde ist ganz ok verlaufen. Der Kater war allerdings eine Lektion fürs Leben.
Aber Alkohol ist nicht wirklich gut besetzt – Du warst kein souveräner Konsument, zu oft ist Dir die Menge entglitten. Der peinlichste Moment, an den ich mich erinnern kann, war das Nach-Hause-Bringen mit der U-Bahn… Was Du da alles geredet und gesungen hast… Weia.
Dank Dir bekommen alle Bedienungen in gastronomischen Einrichtungen ein großzügiges Trinkgeld von mir, die Knauserigkeit war uns immer unangenehm. Und ich lasse keinen anderen Menschen für mich bestellen, das möchte ich gerne selbst machen, danke sehr. Auch nicht, wenn ich die Landessprache nicht beherrsche, dann zeig ich lieber auf die Karte.
Du warst immer groß und unkaputtbar. Hast mich Bagger fahren lassen auf den Baustellen der Heimat. Als ich die Handbremse beim „Autofahren-Spielen“ am Hang gelöst habe, hast Du verzweifelt versucht das Auto zu bremsen. Dein Ellebogen war immer verbrannt, weil er beim Fahren aus dem Fenster hing, neben meinen Füssen, die ich von hinter Dir durchs Fenster durchstreckte (und dabei mehrfach den Verriegelungsknopf abgebrochen habe).
Auf der Kirmes fuhren wir immer zu dritt Berg-und-Talbahn, Du aussen, ich innen, mein Bruder in der Mitte. Ich habe solange festgehalten wie ging und wir haben alle gejohlt vor Freude. Am lautesten haben wir gejubelt, wenn es rückwärts ging – also wir – mein Bruder und ich – Du musstest dann immer kotzen. Tapfer bist Du mit in jede Achterbahn, aber Schiffschaukel musste Mama machen.
Die Liebe zur (Pop-)Musik kommt von Dir, genauso die Faszination von Schallplattensammlungen, Tom Jones und Milva. Kruschpelkartoffeln gab es nie wieder so gut wie von Dir, allerdings werde ich aufgrund traumatischer Kocherlebnisse auch nie Hasen oder Kanninchen verspeisen. Süße Hauptgerichte, die Liebe dazu, die hast Du nur an meinen Bruder weitergegeben – Dampfnudeln mit Weinsoße lässt mich weiterhin erschauern.
Erklären konntest Du, allerdings nie so, dass ich es verstanden habe. Aber ich habe Dir trotzdem gerne zugehört – für die Schule war das allerdings nix.
Unseren adeligen Hasen (Zwerg- sollte es sein, Riesenvieh wurde es) hast Du mit zur Baustelle genommen und im U-Bahn-Tunnel einbetoniert, damit er da immer in unserer Nähe ist. Wir haben Dir das mit großen Augen geglaubt – noch heute fahre ich den Tunnel nicht entlang, ohne nicht kurz an meinen Hasen zu denken.
Doch irgendwann kippte es, ich musste mich immer öfter vor Dich stellen, weil Mama Dich angeschnauzt hat. Richtig laut habt ihr nie gestritten, weil Du meistens geweint hast und sie auf Dich eingeredet hat. Danach gab es immer Schweigezeiten… Wir verzogen uns da lieber in unsere Zimmer, das war angenehmer. Schön war das nicht, auch wenn es nicht wirklich Gründe gab.
Irgendwann hiess es, Du ziehst zu Oma um sie zu pflegen. Ich sah‘ Dich nicht mehr, mein Partner in der Familie war weg und ich stand alleine gegen das andere Team da.
Danach gab es nur noch unschöne Szenen, nicht gehaltene Versprechen, Druck deinerseits mich in die neue Familie zu integrieren um Dein Wunschbild zu erfüllen. Geredet haben wir oft, aber angekommen und geändert hat sich nichts. Vorwürfe und „das gehört sich so“ häuften sich und ich bin geflüchtet.
Ich versuche auf meine eigene Art, die Wunden zu heilen. Für mich einen neuen Weg zu finden und mein Wunschbild zu erfüllen. Von mir und für mich.
Und deswegen brauche ich Zeit, viel Zeit und Abstand. Damit ich mit Abstand die guten Zeiten hervor holen kann und die schlechten in die Kiste legen und zudecken kann.
Danke für den tollsten Kinderzeit-Papa, den man haben kann.
Deine Lila
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